Warum wenden sich Menschen Sekten zu?

Sekten nutzen eigene Literatur, nicht nur die Bibel

Mir könnte das nie passieren!
Wie kannst du nur so einen Unsinn glauben?
So dumm bist du doch gar nicht?

Das sind Aussagen, die Menschen zu hören bekommen, wenn sie sich einer Sekte, einem Kult oder einer neureligiösen Randgruppierung zuwenden. Und das hören Menschen, die sich bereits in einer solchen Gemeinschaft befinden und auch Menschen, die sich letztendlich wieder aus den Fängen solcher Gruppierungen befreien konnten.

Ehemalige Mitglieder von Sekten erkennen irgendwann, dass sie einem Lügenkonstrukt aufgesessen sind und stellen sich all diese Fragen im Nachhinein selbst. Leider nicht alle, aber doch einige.
Sie fragen sich:
Wie konnte es nur soweit kommen?
Wie konnte ich nur darauf hereinfallen?
Wie konnte ich nur so dumm sein?

Mir könnte das nie passieren!
Das wäre schön, aber leider kann es eben doch jedem passieren. Jeder Mensch hat irgendwo und irgendwann in seinem Leben und Erleben Fensterchen und Türchen, die in eben dieser bestimmten Lebenssituation offenstehen und einer falschen Lehre Zugang gewähren können.
Jeder von uns hat seine Knöpfe, die – zum richtigen Zeitpunkt gedrückt – dafür sorgen, dass man in den Bann einer Sekte gezogen werden kann.
Menschen erleben z.B. schwere Schicksalsschläge, die sie am Sinn des Lebens und Weiterlebens zweifeln lassen. Es gibt Situationen im Leben, auf die wir keine eigenen Antworten haben. Nur Fragen. Vor Allem die Frage nach dem Warum. Das macht uns anfällig für fremdbestimmtes Handeln.

Warum musste das passieren?
Warum ist mein geliebter Partner:in so plötzlich gestorben?
Warum hat er/sie mich verlassen?
Warum habe ich mein Kind verloren?
Warum muss ich diese schreckliche Krankheit erleiden?
Warum habe ich meinen Arbeitsplatz verloren?
Warum bin ich so erfolglos im Job?
Warum falle ich nun ins Bodenlose?

Wo ist der Sinn? Hat das Leben überhaupt einen Sinn?
Wo ist Gott? Wenn es ihn gibt: Warum lässt er all diese schrecklichen Dinge zu?

Wenn eine Betroffene/ein Betroffener in einer schweren Lebenskrise dann mit Lehren in Berührung kommt, die ihm einen scheinbaren Ausweg zeigen, dann besteht die Gefahr einem sektenhaften Konstrukt auf den Leim zu gehen. Einem Konstrukt das tröstet, erklärt und einen Ausweg aufzuzeigen scheint. Personen, die diesen Weg aufzeigen sind genau darauf geschult.

Am Anfang magst du noch skeptisch sein, irritiert. Aber naja, anschauen kann man sich das ja mal. Tut ja nicht weh. Ich kann immer noch Nein sagen und gehen.
Aber genau das ist der erste Schritt mit dem still und leise nun ein Prozess beginnt, der schnell eine Eigendynamik entwickeln kann.

Du wirst in einen Kreis von Menschen aufgenommen, die es scheinbar gut mit dir meinen, die dich trösten, dich umarmen, dich mit Zuwendung überhäufen und auf jede Frage eine Antwort wissen. Endlich Antworten! War es doch genau das, was du in deinen schweren Momenten brauchtest. Antworten, Hoffnung und Zuversicht. Diese Menschen hören dir zu und fangen dich auf, sie geben dir Halt. Vielleicht fühltest du dich einsam und verlassen – hier bist du es nun nicht mehr. Hier ist es egal, wer du bist. Ob erfolgreich oder nicht, ob schlau oder nicht.
Deine neuen Bekannten akzeptieren dich aufrichtig und du wirst immer mehr Zeit mit ihnen verbringen. Du fühlst dich geliebt, immer wohler und spürst Erleichterung. Das sind wahre Freunde! Deine Energie kommt zurück.
Faszinierend!
Klick, die Falle schnappt zu!

Deine bisherigen Interessen und Hobbys treten nach und nach in den Hintergrund. Das ist jetzt nicht mehr so wichtig. Deine bisherigen Freunde und auch Familienmitglieder sind ebenfalls nicht mehr so wichtig. Du möchtest so viel Zeit wie irgend möglich in diesem neuen Kreis aufrichtiger Menschen verbringen. Sie haben dich gerne bei und um sich. Das tut so gut. Hach ja!

Du wirst vermutlich erste Bücher lesen. So ziemlich jede Sekte hat eigene Literatur.
Nach und nach wirst du deine Gewohnheiten ändern, deinen Kleidungsstil, deinen Tagesablauf, vielleicht noch mehr? Dein Leben bekommt Struktur. Du widmest deine Zeit immer mehr für die Gemeinschaft, bis du irgendwann täglich damit beschäftigt bist.
Wenn das passiert ist, dann hat dich die Krake des Glaubenskonstrukts so umgarnt, dass du es nicht mehr bemerkst.
Du hältst dich inzwischen an die Regeln der Sekte.
Würdest du es nicht tun, gäbe das Probleme.

Der Zeitpunkt kommt, an dem alles vorherige schlecht ist. Die Welt ist schlecht, die Gesellschaft ist schlecht und langsam kritisierst du die Dinge, die dich früher vielleicht ausmachten. Kameraden, Sport, Erfolg, Bildung…
Jetzt unterstützt du die Gemeinschaft. Ihr habt ein gemeinsames Ziel, für das ihr einsteht. Wo ist der Spendenkasten?

Warum war ich so dumm?
Vorurteil! Opfer von Sektierertum sind nicht dumm. Es sind auch diejenigen, die nach außen stark wirken. Die Umstände und vielleicht ein paar unachtsame Momente machten dich unvorsichtig. Und diese Momente ereilen jeden von uns früher oder später.
Es gibt auch sehr gebildete Personen in diesen Kreisen.

Warum funktioniert das immer wieder?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Das Einzelwesen Mensch hat dabei als Individuum ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Wir brauchen ein soziales Biotop von Menschen, die uns lieben, akzeptieren, respektieren und annehmen. So wie wir als Individuum eben sind. So, wie jeder von uns gedacht war zu sein. Nicht nur ein kleines Kind braucht Zuwendung und Liebe der Eltern zum Beispiel, auch wir Erwachsenen sehnen uns nach Zugehörigkeit und Liebe. Der eine mehr, der andere weniger. Um ein Individuum zu sein braucht es aber auch die Gemeinschaft/Gesellschaft. Individualität und Gemeinschaft schließen sich nicht aus, sie bedingen sich gegenseitig. Weil erst im Wechselspiel das Individuum entstehen kann.
Wir werden in eine soziale Welt geboren, wachsen in Familien oder anderen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kontexten auf. Mal gut, mal weniger gut.
Teil einer Gruppe zu sein ist wichtig zur Findung der eigenen Identität. Der Mensch braucht die Einbettung in ein soziales Umfeld. Sei es die Familie, Freundeskreis, Kollegen, Mitschüler usw.
Dieses Grundbedürfnis wird von Sektenführern schamlos ausgenutzt um den Nutzen für die Gruppe zu maximieren. Menschen werden strategisch in den Mikrokosmos der Sekte gezogen, um dann den Willen und das Ziel der Führerschaft zu unterstützen und zu erreichen. Sekten sind Gemeinschaften, die das gleiche Ziel verfolgen. Als Bestandteil und Mitglied dieser Gemeinschaft erfährst du eine komplett neue Identifikation, deine Individualität wird allerdings nach und nach unterbunden. Deine eigene Persönlichkeitsentfaltung ist nicht mehr möglich und Regeln, Geboten und Verboten unterworfen. Das merkst du jetzt nicht mehr. Du glaubst dich in die Gemeinschaft involviert und identifizierst dich mit ihr. Das mag im ersten Moment dein Selbstbewusstsein stärken, schließlich gehörst du nun zu einem elitärem Kreis Auserwählter. Dass Autoritäten bereits dein Leben diktieren, nimmst du nicht mehr wahr.

Sekten sind nicht einfach nur harmlose Gruppen, deshalb besser Finger weg!