Im Alter von fast 19 Jahren begann ich mich aus der Organisation der Zeugen Jehovas auszuschleichen. Mit 20 wurde ich ausgeschlossen.
Mein Vater hielt noch ungefähr ein Jahr Kontakt zu mir, dann brach er ihn ab.
In den Jahren danach wechselten meine Gefühle für ihn von Hass über Gleichgültigkeit bis hin zu Verachtung. Doch dieses Jahr schlich sich ein neues Gefühl in mein Herz. Die Trauer.
Am 9. Mai 2022 warf ich einen Blick auf den Kalender und wie jedes Jahr dachte ich an genau diesem Tag an meinen Vater. Es ist sein Geburtstag. Er wurde 75 Jahre alt. Als wir uns das letzte Mal sprachen, war er um die 46 Jahre alt. Er war damals 6 Jahre jünger, als ich es jetzt bin.
Von meinen 52 Lebensjahren war er 22 in meinem Leben, die anderen 30 Jahre hatten wir nichts mehr miteinander zu tun. Wir sind Fremde füreinander geworden.
Ich weiß nicht, ob er noch manchmal an mich denkt. Vielleicht auch an meinem Geburtstag?
Auch wenn Zeugen Jehovas keine Geburtstage feiern, der 11.11. ist ein Datum, das vermutlich fast jedem ins Auge springt. Ich bin ein Faschingskind.
Ob er manchmal an seine Enkelkinder denkt?
Meine große Tochter Nadine sah er das letzte Mal, als sie noch ein Baby mit knapp einem Jahr war. Meine jüngere Tochter Melinda hat er nie gesehen.
Beide sind inzwischen junge und hübsche erwachsene Frauen im Alter von 31 und 25 Jahren.
Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Oder was er fühlt. Ob er überhaupt etwas fühlt.
Aber mir ist bewusst, dass er strikt die Lehren und Anweisungen der Organisation der Zeugen Jehovas befolgt, die fordern, keinen Kontakt zu Ausgeschlossenen zu haben.
Selbst, wenn es das eigene Kind ist. Selbst, wenn es das einzige Kind ist. Und das bin ich für ihn.
Mein Vater ist jetzt 75 Jahre alt. Ich 52. Wir sind beide nicht mehr die Jüngsten. Der Zeitpunkt, an dem einer von uns für immer die Augen schließt, rückt immer näher. Und wenn dieser Moment gekommen ist, werden wir Jahrzehnte nicht mehr miteinander gesprochen haben. Kein „Wie geht’s dir?“, kein „Ich liebe und vermisse dich!“, keine Umarmung.
Wahrscheinlich werde ich nie erfahren, ob und welche Hobbies er hatte. Wie er seinen Alltag verbrachte. Was ihn glücklich machte. Und ich werde vielleicht auch nie erfahren, wo sein Grab sein wird.
Ächtung: Welch menschenverachtende Praxis!
Ich bin traurig!