Meine Reise in die Vergangenheit

…an jenen Ort, an dem zwei Frauen meiner Familie im Jahre 1944 hingerichtet wurden.

Eingangsbereich der Gedenkstätte Plötzensee

Der 6. Oktober 1944 war ein Freitag.
An diesem Tag wurden meine Großtante Therese Kühner (geborene Danhofer und Schwester meines Opas Johann) und ihre Schwägerin Elsa Danhofer, die erste Ehefrau meines Opas, in Berlin-Plötzensee zur Guillotine geführt. Ihre Gefängniszelle im Strafgefängnis Plötzensee, in der sie am selben Tag gegen 10 Uhr morgens von ihrer bevorstehenden Enthauptung erfuhren, lag nur ein paar Schritte vom Hinrichtungsraum entfernt.
Dort durften beide kurz vor ihrer Hinrichtung einen Abschiedsbrief schreiben.
Ihre zuvor gestellten Gnadengesuche waren abgelehnt worden.

Ende August 1944 waren beide Frauen nach über einjähriger Gefangenschaft vor dem Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt worden.
Elsa, die Hände auf dem Rücken gefesselt, betrat als erste den Raum.
Ihre „Personengleichheit“ wurde festgestellt und man führte sie hinter den schwarzen Vorhang, der den Blick auf das Fallbeil freigab. Scharfrichter Röttger1 samt 3 Gehilfen stand schon bereit. Der Vollstreckungsleiter beauftragte den Scharfrichter mit der Vollstreckung.
Lt. Protokoll ließ sie „sich ohne Widerstreben auf das Fallbeilgerät legen, worauf der Scharfrichter die Enthauptung ausführte und sodann meldete, daß das Urteil vollstreckt sei. Die Vollstreckung dauerte von der Vorführung bis zur Vollzugsmeldung 7 Sekunden.“

Therese Kühner


Dann wurde meine Großtante Therese vorgeführt.
Zwischen beiden Enthauptungen um die Mittagszeit lagen nach offiziellen Angaben nur drei Minuten. Vielleicht läutete die Armesünderglocke. Ein Justizbeamter machte sich anschliessend auf den Weg, den Tod beider Frauen beim Standesamt in Berlin anzuzeigen, damit die Sterbeurkunden ausgestellt werden konnten.


Ihre Leichname wurden wohl dem Anatomischen Institut der Berliner Universität (Hermann Stieve) zur Verfügung gestellt, dort seziert und später im Krematorium Wilmersdorf verbrannt.
Die Aschen der Toten wurden lt. Info der Gedenkstätte meist anonym beigesetzt.
(Siehe: Prof. Dr. Johannes Tuchel: Hinrichtungen im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee 1933 bis 1945 und der Anatom Hermann Stieve, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2019, ISBN 978-3-945812-35-8.
Zu erhalten auf der Website der Gedenkstätte ->hier!

Links und unten im Bild: Meine Großtante Therese Kühner aus München. (Foto: privat*)


Therese und Elsa wurden ermordet, weil sie das unter Hitler verbotene Werk der Zeugen Jehovas im Untergrund fortsetzten. Elsa war eine getaufte Zeugin, meine Großtante Therese lt. eigener Angabe bei Verhören dagegen nicht.
Über einen Kontakt bekamen sie Schriften z.B. aus der Schweiz, fertigten Abzüge mit einem Vervielfältiger an und verteilten diese über Mannheim und München bis nach Österreich. Ein ausgeklügeltes System von Helfern und geheimen Wegen, wie man in den Verhörprotokollen des Volksgerichtshofs und des Bayerischen Staatsarchivs lesen kann.
Am 3. August 1943 waren die Frauen in der Wohnung meiner Großtante im Münchener Glockenbachviertel verhaftet worden.


Meine Tante Anni, Elsas und meines Opas Tochter, damals noch eine junge Frau, war am frühen Morgen mit ihrer Cousine Sofie – meiner Großcousine – zufällig in Richtung Berge abgereist.
Auf einer Berghütte nahe der Kampenwand wurden beide einen Tag später ebenfalls verhaftet.
Sie hatten Glück. Nach einigen Wochen Haft wurden sie entlassen.
Beide wurden über 80 Jahre alt und starben eines natürlichen Todes.

Der 6. Oktober 2023 war auch ein Freitag.
An diesem Tag, dem 79. Todestag von Therese und Elsa machte ich mich auf den Weg zur Gedenkstätte Plötzensee. Einen Besuch hatte ich schon länger angedacht. Ich war zufälligerweise in Potsdam und hatte Zeit.
Mit zwei roten Rosen in der Hand betrat ich das Gelände der Grausamkeiten, heute eine Gedenkstätte. Ein Ort der Erinnerung und gegen das Vergessen, an dem über 2.300 Menschen grausam hingerichtet worden waren. Sinnlose, brutale Morde. Unfassbar!

Langsam näherte ich mich dem Gebäude. Obwohl das Wetter viel zu warm für Oktober und die Temperaturen angenehm waren, fröstelte mich.
Auf dem Weg zum Gebäude komme ich an einer großen Urne vorbei, die Erde aus deutschen Konzentrationslagern enthält.
Die Überreste meiner Vorfahren werden darin nicht enthalten sein.


Eingang zum Hinrichtungsraum in der Gedenkstätte Plötzensee.

Vor dem Hinrichtungsraum blieb ich kurz stehen.
Die Tür stand offen und ich warf einen vorsichtigen Blick hinein.
Ich schaffe es nicht, diesen Raum sofort zu betreten.
So ließ ich zunächst den ersten Eindruck auf mich wirken und ging einen Raum weiter.



Dauerausstellung in der Gedenkstätte Plötzensee.

Dort finde ich eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Hinrichtungsstätte Plötzensee.
An dem in einen Tisch eingelassenen Bildschirm mit Touchscreen kann ich Totenbücher durchforsten.
Ich suche nach Therese und werde fündig.
Siedend heiß fällt mir ein, dass eine Mitarbeiterin dieser Gedenkstätte gerne den Abschiedsbrief von Therese, den ich im Original bei mir zuhause verwahre, in ihrem Totenbuch zeigen würde.



Ich hatte einige Zeit für mich, um mich an diesem schrecklichen Ort etwas zu akklimatisieren.
Eine Schulklasse betrat das kleine Gelände und ich mache Pause im Info-Büro. Ein sehr netter Mitarbeiter konnte noch einiges über diesen düsteren Ort berichten. So ist ihm noch jeweils lange mulmig, wenn er unter dem Stahlträger samt Haken für die Erhängungen der zum Tode Verurteilten rausfegen muss. Kann ich gut verstehen.
Ich hielt noch immer meine roten Rosen in der Hand. Er gab mir einen Kaffee aus und gemeinsam warteten wir, bis die Schulklasse wieder ging.

Nach meinem letzten Schluck Kaffee bedankte und verabschiedete ich mich von dem freundlichen Herrn und steuerte auf den Hinrichtungsraum zu.
Nach kurzem Zögern trete ich ein.
Ein kahler Raum. Die Wände weiß getüncht, aber das Fallbeil nicht mehr da. Zum Glück.
Im Boden kann ich erkennen, wo sich damals die Verankerungen des grausamen Gerätes befanden.
Gleich daneben ein Gully im Boden. Mir wird schlecht.
Auch der schwarze Vorhang war da. Vermutlich ein anderer als damals.

Nach einigen Minuten des Gedenkens lege ich meine Rosen ab, mache ein paar Fotos und gehe.

Raus an die frische Luft. In die Freiheit, die nicht selbstverständlich ist.
Ich bin dankbar, die Zeiten des Nationalsozialismus nicht miterlebt haben zu müssen und hoffe sehr, dass es sich nie wiederholen möge. Doch die AfD feiert weiter Erfolge. Das macht mir Angst!
Wir alle können dankbar sein, für all die Möglichkeiten, die wir heute in einem freien Land wie Deutschland haben. Wie sehr hätten sich das die Menschen von damals gewünscht.
All die armen Opfer.
Ob Widerstandskämpfer und Kämpferinnen, die für Demokratie und Menschenrechte ein- und aufstanden, politische Gegner des Regimes, ob jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Homosexuell orientierte Menschen, Sinti und Roma usw. oder auch religiös Verfolgte, wie es die damaligen Zeugen und Zeuginnen Jehovas waren.

Auf dem Rückweg besuchte ich den Goldfischteich im Tiergarten Berlin.
Hier soll ein Denkmal zur Erinnerung an die damals ermordeten Zeugen und Zeuginnen Jehovas entstehen.
In der Vergangenheit sind dort bereits Mahnmale für andere Opfergruppen des 3. Reiches entstanden, aber noch keines für die ermordeten Zeugen und Zeuginnen Jehovas. Das soll sich nun ändern.
Ich bin ausdrücklich FÜR dieses Gedenken an die mutigen Menschen von damals.

Denn jeder Mensch ist frei zu glauben, was er möchte und ob er überhaupt glauben möchte.
Dafür gilt das hohe Gut und Menschenrecht der Religions- und Glaubensfreiheit.
Für deren Verteidigung müssen wir als Gesellschaft ein- und aufstehen!
Kein Mensch darf dafür bestraft werden, ob er glaubt und was er glaubt. Auch, ob er ein Zeuge Jehovas sein will, oder nicht mehr. Niemand soll aufgrund seiner persönlichen Entscheidung, Weltanschauung, sexueller Orientierung oder Lebensstil Familie und Freunde verlieren, weil sie nicht in das Diktat einer Organisation passen.
Schon gar nicht sollen Menschen deshalb sterben.

Doch sollte man eines dabei beachten:

Das Denkmal wird für die Opfer des Nationalsozialismus in den Reihen der Zeugen Jehovas errichtet werden und soll ein Mahnmal für Religions- und Glaubensfreiheit sein.
Es ist kein Denkmal für irgendeine Religion oder für deren Organisationen von heute und darf nicht instrumentalisiert werden zur Rechtfertigung irgendwelcher Inhalte und Ziele dieser.

Hiermit fordere ich die Führerschaft der Zeugen Jehovas schon heute auf, davon abzusehen!
Missbrauchen Sie nicht das Andenken meiner Familienmitglieder und vieler weiterer Opfer, um von den heutigen Missständen in ihrer Organisation abzulenken oder diese gar zu legitimieren.

Ich bin GEGEN die Instrumentalisierung des Andenkens an die Opfer von Unrecht und Verfolgung zur Rechtfertigung weiteren Unrechts und halte diese für abgrundtief geschmacklos.

Wenn das Denkmal steht, werde ich genau beobachten, wie der Umgang der Organisation der Zeugen Jehovas und der Wachtturmgesellschaft mit diesem Denkmal sein wird.
Zu den grund- und menschenrechtlichen Missständen bei den Zeugen Jehovas an anderer Stelle mehr.
Nicht heute.
Nicht hier!

Mit diesen Gedanken verlasse ich den Goldfischteich und den Tiergarten Richtung Brandenburger Tor, um mich zu einem Gespräch mit Aussteigern der Zeugen Jehovas zu treffen.

Mit unserem Verein JZ Help e.V. unterstützen wir jene, die durch einen Ausstieg aus der Organisation alles verloren haben (den sozialen Tod gestorben sind) und/oder aufgrund dieser grund- und menschenrechtlichen Missstände an deren psychischen Folgeerscheinungen leiden.

Wofür soll noch einmal dieses Denkmal stehen?

Esther Gebhard, geb. Danhofer



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Kopie/Download, Speicherung und/oder Veröffentlichung an anderer Stelle bedürfen einer schriftlichen Genehmigung!
eMail: info@esthergebhard.de

Fußnoten

1 Scharfrichter Wilhelm Röttger wird die Vollstreckung von ca. 3.200 Todesurteilen zugeschrieben.
Er war u.A. an den Massenhinrichtungen der Plötzenseer Blutnächte im September 1943 beteiligt und richtete auch die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 hin.
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