Die Zeugen Jehovas und das BITE-Modell nach Steven Hassan

Der amerikanische Psychologe und Sektenspezialist Steven Hassan geriet 1974 selbst in die Fänge einer Sekte. In seinem damaligen College traf er auf Mitglieder der koreanischen „Vereinigungskirche“, besser bekannt als Mun-Sekte (auch Moonies genannt). Er fiel auf das Lovebombing derer Anhänger herein und binnen weniger Wochen war er im System der Sekte gefangen.

Er glaubte Lehren der Gruppierung, wie z.B. die eines sehr bald hereinbrechenden Harmagedon und dass Satan besiegt werden müsse, um ein himmlisches Königreich auf Erden zu errichten. Erst ein Unfall etwa 2 Jahre später verschaffte seinen Eltern die Möglichkeit, ihren Sohn aus den Fängen der Sekte zu befreien. Sie engagierten einen „Deprogrammer“ und liessen Steven zu diesem Zweck entführen. Nach 5 Tagen war sein „Sektengebäude“ geplatzt. Er war frei.

Heute ist Steven Hassan ein international anerkannter Sektenspezialist und leitet das von ihm ins Leben gerufene freedom of Mind Resource Center, Inc., welches Hilfe für Familien und Betroffene anbietet, sowie Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit betreibt. In seinem Buch „Freiheit des Geistes“ beschreibt er anhand von Forschungsergebnissen und Veröffentlichungen die Wirksamkeit sozialen Einflusses oder destruktiven Einflusses. Menschen seien demnach ausserordentlich empfänglich für soziale Reize, welche auch gegen das Individuum genutzt werden können.


8 Kriterien der Bewusstseinsmanipulation nach Robert J. Lifton

Robert J. Lifton, US-amerikanischer Psychiater und Autor definierte 8 Merkmale, die seiner Erkenntnis nach genutzt werden, um den Geist des Menschen ohne dessen Einverständnis zu kontrollieren und zu ändern:

  1. Milieukontrolle – Kontrolle der Umgebung und der Kommunikation innerhalb dieser Umgebung, und wie die Gruppierung im Kopf des Betroffenen einen internen Dialog kontrollieren kann;
  2. Mystische Manipulation – Die Gruppe verfolgt höhere Ziele, als der Rest der Welt;
    Erfahrungen werden erfunden und anscheinend spontane Ereignisse inszeniert;
  3. Forderung nach Reinheit – Geständnisse von Verstößen gegen aufgestellte und intern geltende Regeln und Verhaltensmaßstäbe (auch anderer Personen) müssen der Führerschaft gemeldet werden;
    Die Regelverstöße werden nicht vergeben, sondern die damit verbundenen Informationen werden zur Kontrolle genutzt;
  4. Bekenntniskult – Das Individuum wird gedrängt, eine unerreichbare Perfektion zu erlangen. Persönliche Grenzen sollen zerstört werden. So sehr sich das Mitglied bemüht, es wird nie genug leisten. Es fühlt sich als Versager und wird noch härter arbeiten;
    Ein Klima von Schuld und Scham wird geschaffen;
  5. Aura einer heiligen Wissenschaft – Das Dogma der Gruppe gilt als absolut wahr, moralisch und wissenschaftlich. Für alternative Ansichten oder Fragen besteht kein Raum;
  6. Überladene Sprache – Verwendung eines eigenen Wortschatzes (Tendenzsprache), welche nur Insider verstehen;
    Ein Schwarz-Weiß-Denken wird damit installiert und Gedanken werden eingeengt;
  7. Doktrin über die Person – Das Individuum samt Gedanken und Gewissen zählt nicht, die Gruppe und deren Glaubenssätze sind wichtiger;
  8. Absprechen der Existenz – Gruppenmitglieder glauben, ein Lebensrecht zu haben und gerettet werden zu können;
    Personen ausserhalb, wie ehemalige Mitglieder und Kritiker dagegen nicht. Sie sind zur Vernichtung verdammt.

Entstehung des BITE-Modells

Steven Hassan knüpfte später an Liftons Theorien (siehe auch “Margaret Singers 6 Punkte für eine Gehirnwäsche”) und anderen, die diese und ähnliche Mechanismen erforschten, an und übertrug sie auf die Praktiken religiöser, destruktiver Gruppierungen. Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung mit Aussteigern aus totalitären Gemeinschaften und seinen Beobachtungen entwickelte Steven Hassan daraufhin das BITE-Modell.
Es beschreibt, in welchen Bereichen Menschen manipuliert und in einer sektenhaften Gruppierung verhaftet bleiben. Am Beispiel der Zeugen Jehovas wissen wir: oft ein Leben lang.


Das BITE-Modell

Quelle: “Freedom of Mind” by Steven Hassan

Behavior Control / Verhaltenskontrolle,
Information Control / Informationskontrolle,
Thought Control / Gedankenkontrolle und
Emotional Control / Gefühlskontrolle

Anhand dieses Modells lässt sich das Gefahrenpotenzial einer Gruppierung oder Organisation erkennen. Je mehr Kontrolle in den einzelnen Bereichen zu finden ist und je systematischer diese Kontrolle über einen stabilen Zeitraum ausgeübt wird, umso höher das Potenzial, dass die persönliche Freiheit der Mitglieder missachtet und für die eigenen Zwecke der Organisation missbraucht wird. Umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir bei betreffender Organisation von einem Kult oder Sekte sprechen.
Je früher ein Mensch diesen Mechanismen ausgesetzt ist, weil er z.B. bereits als Kind der Dauerbeschallung und Indoktrination ausgesetzt ist, umso schwerer wird es sein, die tiefe Wirkung loszuwerden.


Das BITE MODELL am Beispiel der Zeugen Jehovas

In folgender Aufstellung habe ich nur die Merkmale übernommen, die meines Erachtens und eigenen Erlebens auf die Zeugen Jehovas zutreffen.

Verhaltenskontrolle

Regulation der physischen Wirklichkeit
– Schreibe vor, wo, wie und mit wem das Mitglied lebt und sich trifft
– Sexuelle Repression (wann, wie wo hat das Mitglied Sex), Homophobie, Anti-Masturbation
– Kontrolle von Kleidungsstil und Haartracht
– Abzulehnende Nahrungsmittel (Blutwurstprodukte – natürlich auch Transfusion)
– Finanzielle Ausbeutung (Spenden)

Viel Zeit für Gruppenindoktrination und Selbstindoktrination
Einmischung in Freizeitgestaltung und Unterhaltung (greift bis in Urlaubsplanung)
Fordere Erlaubnis für wichtige Entscheidungen
Gedanken, Gefühle und Aktivitäten – auch anderer Personen – müssen den Oberen berichtet werden
Demotiviere Individualismus, ermuntere zu Gruppendenken
Verhänge strenge Regeln und Vorschriften
Erziehe Gehorsam und Abhängigkeit an
Trennung von Familie (Ächtung)

Informationskontrolle

Täuschung
– Halte willentlich Informationen zurück
– verdrehe Informationen, um sie annehmbarer zu machen
– Belüge das Sektenmitglied systematisch

Verhindere Informationen von ausserhalb der Sekte
– Internet, TV, Radio, Bücher, Artikel, Zeitungen, Zeitschriften, andere Medien
– zu kritischen Informationen
– zu Ex-Mitgliedern
– Beschäftige die Leute, damit sie keine Zeit zum Nachdenken und -forschen haben

Informationsabschottung von Lehren Aussenstehender gegen die eigenen Lehren
– nur die Führung entscheidet, wer etwas wissen muss und wann

Ausspionieren
– Ermuntere Mitglieder dazu
– “Kumpelsystem” – scheinbare Freundschaft zur Überwachung und Kontrolle
– Berichte abweichende Gedanken, Gefühle und Handlungen der Führung

Extensiver Gebrauch sekteneigener Information und Propaganda
– Zeitschriften, Zeitungen, Tonbänder, Webseitenartikel, Videos, Filmen und andere Medien
– Falschzitate, Aussagen (z.B. von Wissenschaftlern) aus dem Zusammenhang gerissen

Unethischer Gebrauch von Beichten
– Informationen über Sünden, um Identitätsgrenzen stören oder aufzulösen (Komiteebefragungen)
– Über Geschehnisse plaudern

Gedankenkontrolle


Mitglieder müssen die Gruppenlehren als Wahrheit verinnerlichen
– eigene „Landkarte“ der Wirklichkeit
– Schwarz-Weiss-Denken wird installiert
– Entscheide zwischen Gut und Böse
– Teile in Wir und Sie (Insider/Outsider – “Die da draussen” versus “Wir hier drin”)

Tendenzsprache
– Sektenvokabular/Aufgeladene Sprache – Wörter sind Werkzeuge des Denkens. Besondere Wörter begrenzen Wissen und stoppen den Denkprozess, Komplexes wird auf Plattitüden und Schlagworte reduziert

Nur „gute“ und „richtige“ Gedanken werden belobigt
Hypnosetechniken zur Änderung des seelischen Zustandes


Gedankenstopptechniken, die die Realität ausschliessen
– Leugnen, Rationalisieren, Rechtfertigen, Wunschdenken
– Runterleiern
– Beten
– Singen

Ablehnen rationaler Analyse, kritischen Denkens, konstruktiver Kritik
Keine kritischen Fragen zu Führern der Organisation, Lehre oder Vorgehensweise erlaubt
Andere Glaubensgebäude als illegitim, böse oder nutzlos angesehen
Sexuelle Repression, Homophobie, Anti-Masturbation
(siehe auch Verhaltenskontrolle)

Gefühlskontrolle

Einengung des Gefühlsbereichs
Manche Emotionen und/oder Bedürfnisse sind böse, falsch und egoistisch
Gefühlsstoppen (wie Gedankenstopp – Blockieren von Gefühlen wie Wut und Zweifel)
Lasse die Personen fühlen, ihre Probleme seien immer ihre eigene Schuld – niemals die der Führerschaft oder der Gruppe

Exzessiver Rückgriff auf Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit
– Schuld über die eigene Identität
– Die Person schöpft nicht ihre Möglichkeiten aus
– Die Familie des Mitglieds hat Fehler
– Vergangenheit ist verdächtig
– Der Umgang ist unvernünftig
– Eigene Gefühle, Gedanken und Handlungen sind unwichtig und/oder egoistisch

Exzessiver Rückgriff auf Furcht
– Frucht vor eigenständigem Denken
– Furcht vor der Außenwelt
– Frucht vor Feinden
– Furcht, die Rettung zu verlieren
– Furcht, die Gruppe zu verlassen und von ihr geächtet zu werden (damit verbunden das öffentliche Anprangern im Königreichssaal)
– Furcht vor Missfallen

Angstindoktrination
– Einimpfen irrationaler Ängste/Phobien, die Gruppe zu verlassen oder die Autorität des Führers infrage zu stellen
– kein Glücklichsein, keine Erfüllung ausserhalb der Gruppe
– Schreckliche Folgen nach Verlassen der Gemeinschaft: Von Dämonen besessen, unheilbare Krankheit, Unfall, Suizid, Wahn
– Ächtung, wenn man geht: Angst vor Ablehnung durch Familie und Freunde und deren Verlust
– Wer geht ist schwach, undiszipliniert, ungeistig, weltlich, von Familie oder Therapeut gehirngewaschen, von Geld oder Sex (oder Rock’n Roll) verführt



Nach Auflistung der Merkmale bin ich persönlich der Meinung, dass allein die Menge immens ist.
Im Vergleich befinden sich Zeugen Jehovas demnach nicht weit von Scientology entfernt.

Das Konzept der Gehirnwäsche und/oder der Gedankenkontrolle wird von manchen Wissenschaftlern hinterfragt und deren Wirksamkeit bezweifelt. Was ich wiederum bezweifle.
Die Anwendung dieser Manipulationstechniken und deren Wirksamkeit bestätigen mir so gut wie alle, die damit konfrontiert waren und aus einem solchen Zustand „erwacht“ sind. (Zeugen Jehovas – Manipulation durch Gehirnwäsche?)
Natürlich sind meine Erinnerungen nicht erloschen, aber ich lebte für Jahre in einem Paralleluniversum, als eine durch o.g. Mechanismen gebrochene Persönlichkeit. Angeordnet von einer menschlichen Führerschaft in New York, ausgeübt durch ebenfalls manipulierte Mitglieder wie Eltern, Ältestenschaft, Freunde und Glaubensschwestern und -brüder.
Wir waren und sind heute noch alle Opfer von Opfern (Zitat aus “Der Gewissenskonflikt” vom ehemaligen Mitglied der “Leitenden Körperschaft” in New York: Raymond Franz, Kapitel 10, Seite 216).

Zeugen Jehovas erleben auch kognitive Dissonanzen. Zweifelhaftes Verhalten, wie totaler Kontaktabbruch zum eigenen Kind z.B. braucht Erklärungsmodelle, um die eigene innere Welt nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Die Ächtung ist eine menschenverachtende Praxis, die von der Führerschaft angeordnet ist. Der Gläubige wird sich daran halten, denn Ächtung/Kontaktabbruch wird ironischerweise „liebevolle Vorkehrung“ genannt. Natürlich möchten Eltern liebevoll sein. Dass sie ein grausames Spiel mitspielen, bemerken sie nicht. Das gilt auch für Kinder, die ihre ausgestiegenen Eltern aus ihrem Leben verbannen. Oma und Opa, die ihre Enkelkinder nicht aufwachsen sehen dürfen. Ein Bestrafungssystem, verkauft als liebevoller Akt verbunden mit der Aussage „Ich liebe dich!“, oder „Gott liebt dich, aber du wirst in seiner Schlacht getötet werden!“.
Das Paradoxon des „Double Bind“.

Vorbei am Menschenrecht der Religionsfreiheit haben viele Aussteiger wie ich ihre Identität verloren.

Wenn ich die Mechanismen erkenne, kann ich doch einfach gehen!
Oder nicht?

Selbst wenn Gläubige das Glück haben, diese Mechanismen zu erkennen:
Vielen fällt es schwer, nach Erkennen ihrer Lebenslüge aufgrund jahrelanger Manipulation eine totalitäre und manipulative, Gruppierung wie die Zeugen Jehovas zu verlassen. Zum einen droht der Verlust des kompletten sozialen Umfeldes, zum anderen tritt der Sunk-Cost-Effekt auf. Der Betroffene hat irreversible Kosten investiert. Sein Leben ist nicht mehr zurückzuholen. Seine besten Jahre sind vegeudet. Im schlimmsten Fall hat man die eigenen Kinder diesem System ausgesetzt. Dieser Umstand ist oft mit nichts mehr wieder gut zu machen.

Weiterführende Artikel zum Thema Kindeswohlgefährdung bei Zeugen Jehovas findest du -> hier.
Zeugen Jehovas missachten Menschenrechte -> hier.

Ein letzter Gedanke und Hilfsangebote

Ich empfehle jedem, der sich mit Ausstiegsgedanken trägt, oder den Ausstieg bereits vollzogen hat, eine Therapie beim Traumatherapeuten. Vorab bietet der Opferhilfeverein JZ Help e.V. “Erste Hilfe” per Gesprächsangebot mit einem Berater oder einer Beraterin. Auch externe Beratungsstellen, wie “Opferhilfe – Weisser Ring e.V.” (Telefon 116 006) und/oder die Telefonseelsorge (Telefon 0800/11 0 11 oder 0800/11 0 22) stehen zur Verfügung.
Weitere Angebote -> hier.

Wir werden unsere Vergangenheit samt Erinnerungen nicht ungeschehen machen – auch nicht mit Gehirnwäsche – aber wir können womöglich so weit heilen, dass ein lebenswertes Leben wieder möglich ist. Und wir können uns unsere wahren und echten Persönlichkeiten zurückholen, denn das ist möglich.

Achte gut auf Dich!


Steven Hassans Veröffentlichungen (Deutsch):
“Freiheit des Geistes” (Original: “Freedom of Mind”) 2014 / Ausstieg e.V.,
ISBN-10: 3000429948 / ISBN-13: 978-30000429941

“Ausbruch aus dem Bann der Sekten” (Original: “Combatting Cult Mind Control”) 1994 / Rohwolt-Verlag,
ISBN-10: 3499193914